4. Kapitel

in dem Boscardin ans Datenverarbeitungszentrum einer Ölbrennerfabrik denkt und Krissy Kraut einen Vortrag über Geduld zu hören bekommt; von Zwahlen – ausgerechnet.

Kraut rief ihren Fahnderkollegen Ramon Bieli an, der auch gleich das Trüppchen vom kriminaltechnischen Dienst mitbringen sollte.

Boscardin verabschiedete sich knapp von Kraut und Bachofen. Wenn er schon seine Havanna nicht hatte fertigrauchen können, so wollte er sich doch zumindest in seinem Büro einen anständigen Espresso kochen und noch etwas am Artikel über die Backspatter, also die Rückspritzspuren bei aufgesetzten Schüssen, arbeiten. Sie hatten dünne Beutel mit Blut, Kontrastmittel und Acrylfarbe gefüllt, auf einer mit ballistischer Gelatine gefüllte Plastikflasche befestigt, alles mit einer Schicht Silikon überzogen, 48 Stunden in den Kühlschrank gestellt und dann mit verschiedenen Waffen beschossen.

Boscardin hatte den besten Job der Welt, das wusste er.

Ihr Experiment hatte gezeigt, dass sich die Spuren der Spritzer aus Blut und Gewebe im Waffenlauf bestens für DNA- und Isotopenanalysen eignen. Man konnte mit der DNA-Analyse also eine Waffe einer Leiche zuordnen, auch wenn kein Projektil mehr zu finden war. Oder man konnte mit der Isotopenanalyse herausfinden, ob damit zum Beispiel auf jemanden geschossen worden war, der lange in Asien gelebt hatte, in den Alpen oder an der Nordsee aufgewachsen war.

Boscardin holte seinen Computer aus dem Schalfmodus. Sein 3-D-Programm, mit dem er Blutspritzer, Einschusswinkel und die Position einer Waffe simulieren konnte, war noch geöffnet. Ein mächtiges und vor allem sehr praktisches Programm, das er zusammen mit einem Informatiker in England entwickelt hat. Und auch ein sehr elegantes Programm. Die einzelnen Funktionen waren in der Programmstruktur so klar voneinander getrennt, dass man relativ einfach einzelne Sektoren weiterentwickeln konnte, ohne den Kern des Programms überarbeiten zu müssen. Etwas, was eigentlich auf der Hand lag, aber doch weniger selbstverständlich war, als man meinen konnte.

Sein erstes kleines Computerprogramm hatte er Anfang der 1980er-Jahre noch in Fortran geschrieben. Boscardin lächelte. An der Schule gab es selbstverständlich noch keine Computer. Programmieren war eine Sache, die damals auf Papier stattgefunden hatte. In einer Ölbrennerfabrik, die mit der Schule zusammenarbeitete, hatten Datatypistinnen die handgeschriebenen Programme erfasst und auf Lochkarten stanzen lassen und damit die raumfüllende Maschine gefüttert.

Und dann kam der grosse Augenblick. Exkursion ins Datenverarbeitungszentrum der Ölbrennerfabrik. Alle stehen um eine grosse Konsole mit dem Kartenleser. Die Lochkarten rattern in die Maschine. Hinten im gekühlten Computerraum tut sich was, grosse Magnetbandspulen drehen links herum und drehen rechts herum, und tada, auf dem kleinen schwarzgrünen Bildschirmchen läuft tadellos das Progrämmchen ab, irgendein einfacher Rechenvorgang, an den sich Boscardin nicht mehr genau erinnern konnte.

Boscardin klickte das 3-D-Programm weg und öffnete die Textdatei mit dem Bericht zu ihrem Backspatter-Experiment.

Krissy Kraut machte sich derweil trotz der Kälte mit ihrem hellblauen Rennvelo auf den Weg quer durchs Länggassquartier, von der Rechtsmedizin an der Bühlstrasse zur grossen Schanze, zu den Sternfahrern. Sie flitzte flink vor einem Lastwagen durch und bog in die Sidlerstrasse ein. Der Laster quälte sich qualmend die Schanzenstrasse hoch.

Die Leiche in der Kadaversammelstelle des Tierspitals, nein, das war kein schöner Anblick gewesen. Staatsanwalt Zwahlen hatte neben ihr gestanden. Studer, der ihr meist freie Hand gelassen hatte, bei den Ermittlungen im Hintergrund geblieben, im Gerichtssaal aber umso brillanter aufgetreten war; Studer war nicht da, Studer nahm ein Sabbatical, machte an der Fachhochschule ein CAS als Papierrestaurator. Ein CAS, ein Certificate of Advanced Studies, gute Güte.

Mit Zwahlen würde es nicht so einfach werden. Kraut hatte geseufzt.

Ja ja, das könnte eine verzwickte Sache geben, hatte Zwahlen gemeint. Und natürlich brauchen wir Resultate, Kraut. Aber, und das ist meine Maxime, zu Resultaten kommen wir nur mit Geduld. Geduld, Kraut, Geduld brauchen wir. Nicht einfach rum-zack, reinholen, Kreuzverhör. Geduld, Geduld sag ich immer. Warten, schauen, hören, horchen. Vielleicht etwas anstossen, ja, aber dann Geduld, schauen, was passiert. Nicht dieses Zen-Zeug, Buddhismus-Ding, aktive Geduld nenn ich das, aktive Geduld, verstehen Sie. Jemand macht immer einen Fehler. Nichts ist so schwer, wie etwas zu verheimlichen. Sie können eine Tat vielleicht wegpacken, quasi in die Kühltruhe ihrer Erinnerungen stecken. Aber lügen braucht unheimlich viel Energie und Konzentration. Lügen ist anstrengend und ermüdend. Wir müssen dem Täter Zeit lassen, sich zu verplappern, sich zu verraten. Er wartet nur auf diese Möglichkeit. Er weiss es vielleicht nicht, aber er wartet nur darauf. Auf diese Erleichterung. Darauf wartet er. Das warten wir ab. Wir warten, geduldig, Herrgottsack.

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